Interview: Warum es in Deutschland keine Polarisierung gibt

Prof. Dr. Diez über Polarisierung und Pluralismus in der Gesellschaft

Politikwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Diez im Interview mit der Tübinale 2022 / Uni Tübingen. Polarität, Polarisierung oder Pluralismus? Warum es in Deutschland keine Polarisierung gibt.

Wer ist Thomas Diez?

Dr. Diez ist Professor für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Universität Tübingen. Er selbst hat an der Universität Mannheim und an der Johns Hopkins University in Baltimore Politikwissenschaft, öffentliches Recht und Sozialgeschichte studiert. Seine Dissertation schrieb er über die britische Europapolitik und auch seine Forschung als Professor in Kopenhagen, Birmingham und schließlich Tübingen hat die Rolle der EU als Schwerpunktthema.

2009 erhielt Thomas Diez den Anna-Lindh-Preis für die Analyse der europäischen Außenpolitik. 


Die politische Sicht auf Polarisierung

Im Rahmen der Rhetorik- und Medienwissenschaftsvorlesung zum Thema „Medienkonvergenz und Polarisierung“ hat Prof. Dr. Diez einen Gastvortrag über „Polarisierung im politischen Diskurs“ gehalten und stellte das Phänomen der Polarisierung aus politikwissenschaftlicher Sicht an den Beispielen Großbritannien und der Türkei dar. Nun freuen wir uns sehr, dass er uns ein spannendes Interview ermöglicht hat. 


Tübinale: Besonders in der aktuellen Corona-Pandemie scheint uns der Begriff „Polarisierung" vermehrt zu begegnen. Wie würden Sie aus politikwissenschaftlicher Sicht das Phänomen Polarisierung beschreiben?

 

Prof. Dr. Diez: Polarisierung setzt voraus, dass es tatsächlich zwei diametral entgegengesetzte Pole in der Gesellschaft gibt, die aber beide so substanziell sind, dass man davon sprechen kann, dass eine Gesellschaft am Rande des Auseinanderbrechens ist. Polarisierung bezeichnet im Grunde genommen einen Prozess und es mag sein, dass wir uns auf einem Weg dorthin befinden, wo Gesellschaft stärker polarisiert ist als vorher. Auf der anderen Seite müssen wir vorsichtig sein, diesen Begriff nicht überzustrapazieren, und sollten nicht immer die polarisierte Gesellschaft herbeireden. Deswegen würde ich behaupten, Polarisierung in der Gesellschaft ist dann gegeben, wenn es zwei sich fundamental gegenüberstehende Gruppen in der Gesellschaft gibt, was historisch durch verschiedene Prozesse immer wieder der Fall war. Aber ich würde vorsichtig sein, mit der inflationären Verwendung des Begriffes, gerade im heutigen Kontext. 

 

Tübinale: ...und daran anschließend die Frage, ab wann ist Ihrer Meinung nach von einer Polarisierung zu sprechen? Ist beispielsweise die Debatte über die Corona-Impfpflicht schon polarisierend oder ist die Impffrage „nur“ eine medienwirksame Meinungsverschiedenheit? Wo zieht man da die Grenze?

 

Prof. Dr. Diez: Die Frage, wo man die Grenze zieht, kann ich so nicht beantworten. In den Sozialwissenschaften kann man Begriffe immer sehr unterschiedlich definieren und erzeugt damit natürlich spezifische politische Konsequenzen. Aus meiner Sicht zeichnet die Debatte über die Corona-Impfungen allein schon deswegen keine Polarisierung der Gesellschaft aus, weil es einen zu großen Teil der Gesellschaft gibt, der mit den Impfungen keine Probleme hat. Das heißt, wir haben es im Grunde genommen hier mit dem Problem einer Minderheitenauffassung zu tun, und dann ist die grundsätzliche Frage, wie Demokratien mit solchen Minderheitenauffassungen umgehen. Aber man kann nicht immer, wenn es in Bezug auf bestimmte Issues zu verschiedenen Auffassungen kommt, so diametral diese Auffassung auch gegeneinandergestellt sein mögen, gleich von einer Polarisierung der Gesellschaften sprechen. Da bedarf es eines fundamentaleren Auseinanderdriftens, sowohl im Sinne der Größenverhältnisse als auch im Hinblick auf die grundlegenden Entwicklungen der Gesellschaft. Und so sehr Corona natürlich die Gesellschaft heute beschäftigt, sollten wir uns nicht immer von der Gegenwart lenken lassen und ein bisschen Perspektive gewinnen. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass Corona auf Dauer eine der großen Konfliktlinien der Gesellschaft ausmachen wird. 

 

Tübinale: Sie haben in Ihrem Vortrag Polarisierung an den Beispielen von Großbritannien und der Türkei festgemacht. Welche Polarisierungstendenzen zeigen sich aktuell in Deutschland?

 

Prof. Dr. Diez: Ich habe mit Bedacht den Vortrag nicht über Deutschland gehalten, sondern über Großbritannien und die Türkei, weil ich mich mit diesen Ländern mehr beschäftigt habe. Aber vielleicht auch, weil ich in Deutschland keine äquivalenten Polarisierungstendenzen sehe. Ich glaube, dass Deutschland verschiedene Vorteile hat, was die Ausgangsposition anbelangt. Eine Voraussetzung für Polarisierung sind historisch gewachsene Antagonismen, die von Akteur:innen für sich in Anspruch genommen werden. Einer der entscheidenden Antagonismen war der zwischen Stadt und Land, und dahinter steckte auch eine Zentralisierung von Macht in bestimmten Regionen, häufig auch in Hauptstädten. Durch die föderalistischen Strukturen herrscht in Deutschland eine andere Ausgangslage. Das heißt, wir haben eigentlich eine nach wie vor sehr ausgeglichene Verteilung von Macht. Wir haben aber, was die Ungleichheit anbelangt, in der Einkommensverteilung eine Verschlechterung, die wir feststellen können. Ich hatte bei Großbritannien zudem ausgeführt, dass auch das mit der Arbeiterklasse ein Problem ist, die im Norden Englands und in den industrialisierten Gebieten verloren hat, die sich von den globalisierten Strukturen negativ betrogen fühlt und nicht gleichermaßen davon profitiert wie die politische Elite oder die Finanzelite, die überwiegend in anderen Gebieten angesiedelt ist. Wir haben solche Strukturen auch, aber sie werden in einem gewissen Maße durch die unterschiedliche politische Struktur aufgefangen. So einen großen Gegensatz wie in Großbritannien zwischen einer Metropole London, etwas überspitzt dargestellt, wo historisch gewachsen alles Geld hinfließt, und den ländlichen Regionen, haben wir in der Form nicht. Wir haben auch nicht, wie in der Türkei, den Gegensatz zwischen einer historisch gewachsenen, westlich orientierten Elite, die eher auf Istanbul fokussiert ist, und einem anatolischen, als rückständig betrachteten Hinterland. Das ist in Deutschland nicht der Fall. Wir haben ein Stadt-Land-Gefälle. Wir haben auch Einkommensgefälle. Aber wir haben auch komplexere Strukturen. Diese klaren Unterschiede, die Sie in Großbritannien oder der Türkei finden, gibt es hier nicht. Natürlich können hier auch Polarisierungstendenzen auftreten. Das hat ja auch immer etwas mit politischen Prozessen zu tun, die wir nie vollkommen vorhersagen oder determinieren können. Aber die Grundvoraussetzung für Polarisierung, klar eingrenzbare Antagonismen, sind hier nicht in derselben Form gegeben wie in Großbritannien oder der Türkei. 

 

Tübinale: Ihnen ist die Unterscheidung von Polarisierung und Pluralismus sehr wichtig. Der italienische Politikwissenschaftler und Philosoph Giovanni Sartori beschreibt Polarisierung als einen extremen Pluralismus, dem der gemeinsame Konsens, auf den eine Gesellschaft aufbaut, entzogen wurde. Was kann die Gesellschaft tun, um die Meinungsvielfalt, die den Pluralismus auszeichnet, zu erhalten?

 

Prof. Dr. Diez: Ich habe darauf verwiesen, dass ich insbesondere zwei Strategien in der Bekämpfung von Polarisierung für aussichtsreich halte. Zum einen, dass wir im Gegensatz zu dem, was wir jetzt gerade tun, nicht immer über Polarisierung reden, sondern die pluralen Strukturen betonen. Ich würde mich ungern darauf einlassen, in Bezug auf Deutschland von einer Polarisierung zu sprechen. Wir haben in Bezug auf ein bestimmtes Issue eine tiefgreifende Auseinandersetzung, das ist zweifellos richtig und auch, dass sich dahinter andere Differenzen verbergen. Wenn wir uns das anschauen, werden wir in der öffentlichen Debatte sehen, dass sich hinter denen, die jetzt Spaziergänge machen oder gegen die Impfung sind, ganz unterschiedliche Motivationen verbergen. Das war eben auch ein Grund, warum ich nicht der Auffassung bin, dass das strukturell ein Antagonismus ist, der sich dafür eignet, für eine Polarisierung missbraucht zu werden. Aber was wir sehen, sind Versuche, solche antagonistischen Hegemonien herzustellen. Ich hatte im Vortrag ausgeführt, dass ein Aspekt von Polarisierung die Herausbildung von zwei sich gegenüberstehenden hegemonialen Polen ist und dass wir es in diesen Gesellschaften mit Bipolarisierung zu tun haben, was ein Kennzeichen contra Sartori ist. Der Mechanismus ist, dass man mit einem bestimmten Konzept oder einem bestimmten Symbol eine ganze Reihe von verschiedenen Aspekten verknüpft und damit auch verschiedene Gesellschaftsschichten oder Personen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten in eine neue übergelagerte Polarisierung zusammenbringen kann. Wir nennen das Konzept oder Symbol den tendenziell leeren Signifikanten, weil es sozusagen keine vorgeprägte Bedeutung hat. Wir können in Deutschland den Versuch beobachten, dass ganz unterschiedliche Positionen von links und rechts und mit ganz unterschiedlichen Anliegen auf diese Frage von Impfen oder Nicht-Impfen projiziert werden. Aber im Gegensatz zu der Türkei oder Großbritannien glaube ich, dass dazu die Masse nicht ausreicht. Wir haben aus meiner Sicht nicht dieselbe grundlegende Marginalisierung. Wir haben es nicht mit der Marginalisierung von ganzen Landstrichen zu tun, die durch die Deindustrialisierung ökonomisch ausgeschlossen werden. Das sind hier viel komplexere Strukturen, deswegen ist diese Hegemoniebildung auch sehr viel komplexer. Und natürlich gehen viele Menschen auf die Straße, aber ich halte das nicht für etwas, was von Dauer sein wird. Wir müssen aufpassen, dass wir das, was gerade passiert, in seiner Bedeutung nicht unterschätzen und deswegen halte ich es für wichtig, dass wir den Pluralismus hier aufrechterhalten und damit sowohl die Ängste und Probleme ernst nehmen, als auch uns nicht von einer fehlgeleiteten Einschätzung leiten lassen, dass alles auf Spaltung und Polarisierung hinausläuft. 

 

Tübinale: Oft sehen wir im Zusammenhang mit Polarisierung verhärtete Fronten. Jeder verharrt auf seiner Meinung und versucht, die andere Seite von der eigenen Einstellung und Weltsicht zu überzeugen. Wie kann hier ein Dialog auf Augenhöhe stattfinden?

 

Prof. Dr. Diez: Ich glaube tatsächlich, dass ein Dialog extrem schwierig ist. Wir führen diese Diskussion schon seit einigen Jahren in Bezug auf populistische Strömungen, die es gab, bevor Corona auftrat und bei denen es jetzt zu unangenehmen Synergieeffekten kommt zwischen Populismus und der Impfdiskussion oder der Corona-Diskussion. Schon in der Populismus-Debatte ist die Frage gewesen: Wie kann ich Personen begegnen, die so beseelt sind von der Idee, dass es die Elite gibt, gegen die sie aufbegehren? Wir als Wissenschaftler:innen hatten das Problem auch in der Brexit-Diskussion. Der Grund, warum Wissenschaftler:innen oft in öffentlichen Debatten herangezogen werden, ist, dass da Professor draufsteht und das bestimmte Auffassungen noch einmal untermauert. Das war in der Brexit-Diskussion absolut nicht mehr möglich, weil da klar war, die wissenschaftliche Elite ist Teil der Elite, die uns unterdrückt. Man konnte also mit noch so vielen Statistiken und Zahlen kommen. Das war alles „Lüge”. Wenn die Diskussion einen solchen Punkt erreicht hat, dann kann man nicht mehr groß versuchen, den Gegner zu überzeugen. Unter diesen Umständen ist nur der indirekte Weg möglich: In die öffentliche Diskussion immer wieder einzubringen, dass diese hegemonialen Äquivalenzen problematisch sind, dass in der Gegnerschaft zum Impfen ganz unterschiedliche Motivationen stehen sind und dass man vorsichtig sein muss. Wir können Leute, die sehr stark von ihrer Meinung beseelt sind, nicht davon abbringen, an diesen Spaziergängen teilzunehmen. Wir müssen aber aufpassen, dass gesamtgesellschaftlichen Debatte erstens nicht alle Impfgegener:innen in dieselbe Ecke gestellt werden, aber wir zweitens der Repräsentation einer gespaltenen polarisierten Gesellschaft nicht anheimfallen. Ich glaube, wir werden alle wissen, dass die Bekehrung des Gegenübers auch im eigenen Freundeskreis extrem schwierig ist. Und man kann es ja nicht immer mit allen aufnehmen. Es gibt Leute, die dann radikal mit allen Freund:innen brechen, die anderer Auffassung sind. Das halte ich auch nicht für sinnvoll. Wir sollten da klug genug sein, um diese Freundschaft aufrecht zu erhalten und zu akzeptieren, dass sich unsere Meinungen unterscheiden. Aber der Kampf muss auch auf einer anderen, gesamtgesellschaftlichen Ebene geführt werden. 

 

Tübinale: Kann Polarisierung eine Gefahr für die Demokratie darstellen?

 

Prof. Dr. Diez: Abstrakt gesagt: natürlich, darum ging es auch Sartori, dass Systeme, die aus seiner Sicht stark polarisiert waren, der gemeinsame Grund fehlte, über den man sich noch verständigen kann und die Gesellschaft deswegen dann auseinanderdriftet. Noch einmal: ich sehe das in Deutschland derzeit so nicht. Die letzte Bundestagswahl in Deutschland hat gezeigt, dass die Mehrheitsverhältnisse anders sind, als das in Großbritannien, der Türkei oder der USA zumindest vorübergehend der Fall war. Und wir haben in all diesen Ländern auch andere demokratische Strukturen. Dort haben in den letzten Jahren Akteure aufgrund dieser Strukturen sehr stark an Zuspruch gewinnen können, die ein ganz anderes Verständnis von Demokratie haben. In der Türkei beispielsweise herrschen enorme Auseinandersetzungen darüber, wer eigentlich der Demos in Demokratie ist. Die Auseinandersetzung, wer eigentlich der Demos von Demokratie ist. Wir haben solche Auseinandersetzungen nicht in derselben Form. In den USA gibt es seither eine Auseinandersetzung über die politische Elite in Washington gibt, die angeblich vom Rest des Landes losgelöst ist. Jeder der einmal in der USA war, weiß über die Unterschiede zwischen dem mittleren Westen und den Küsten. Und in der Türkei haben wir da ein ganz ähnliches Phänomen zwischen den Küsten und dem Hinterland. Wir haben in Deutschland enorme Divergenzen, einkommensmäßig, religionsmäßig, stadt-land-mäßig und so weiter. Aber sie sind nicht im selben Maße gesellschaftlich in gegenüberliegende Pole ausgeprägt, wie das jetzt bei den anderen drei genannten Fällen der Fall ist. 

 

Tübinale: Wie sollte die Politik Ihrer Meinung nach mit Polarisierung umgehen?

 

Prof. Dr. Diez: Mit den Mitteln, die ich schon angedeutet habe. Nicht immer der Polarisierung das Wort reden, versuchen auf die pluralistischen Strukturen in der Gesellschaft zu verweisen, dass Meinungsverschiedenheiten nicht immer gleich Polarisierung und Spaltung bedeuten. Im Übrigen auch auf die hegemonialen Strategien derer hinzuweisen, die versuchen, solche Strukturen auszubilden. Und immer wieder dagegenzusetzen, dass diese einzelnen Issues, die hier zusammengebunden werden, in dieser Weise nicht zusammengebunden werden können.  

 

Tübinale: Die Tübinale ist ein Projekt des Instituts für Medienwissenschaft.  Uns interessiert natürlich der Zusammenhang zwischen Medien und Polarisierung. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die (sozialen) Medien im Prozess der Polarisierung?

 

Prof. Dr. Diez: Die Rolle ist natürlich sehr groß, aber auch in den genannten Fällen unterschiedlich. Ich habe in meinem Vortrag auf das Phänomen hingewiesen, dass es zum Beispiel in Großbritannien vor geraumer Zeit auch in den sogenannten Qualitätsmedien das Phänomen gab, dass in Interviews oder Interviewprogrammen Provokation das Hauptstilmittel war und es gar nicht mehr um die Inhalte ging. Und ich glaube, dass Journalismus, bei dem Wiederspruch und Provokation im Zentrum steht, auf Dauer nicht gut gehen kann, weil das die Ernsthaftigkeit der demokratischen Auseinandersetzung untergräbt. Die Problematik der sozialen Medien hingegen ist, dass politische Diskurse nicht mehr so einfach eingefangen und strukturiert werden können. Das hat einen gewissen Demokratisierungseffekt. Wir sollten jetzt nicht so tun, als ob die Demokratie vor zwanzig oder dreißig Jahren, bevor soziale Medien überhaupt möglich waren, in einem optimalen Zustand gewesen ist. Weil die Hierarchisierung natürlich auch ein Problem gewesen ist. Es ist ja geradezu irre, wenn Leute sagen, man könne heute nichts mehr sagen. Man kann heute sehr viel mehr sagen als früher. Früher hätte man es am Stammtisch gesagt, wenn es keiner hört und es hätte auch keinen interessiert. Heute kann man es kundtun und man findet Menschen, die es interessant finden. Insofern hat das einen demokratisierenden Effekt, der auch von ganz unterschiedlichen, zivilgesellschaftlichen Gruppen, die für Demokratisierung gekämpft haben, ausgenutzt worden ist. Im Idealfall würde das ja zu einer starken Pluralisierung führen. Gleichzeitig haben wir das Phänomen, dass Medien nicht unbedingt zu einer Gesellschaft zusammenführen. Wir haben ein Auseinanderfallen der Gesellschaft in Gesellschaften, die sich aber nicht diametral gegenüberstehen.  Soziale Medien spielen dabei sicherlich auch eine Rolle. Man spricht von den echo chambers, die es aber früher auch gab. Ich kann mich an meine erste Vorlesung in Politikwissenschaft erinnern, Einführung in die Politikwissenschaft, bei Prof. Peter Graf Kielmansegg. Er hat einen guten Spruch gemacht, der mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist: „Sie müssen eigentlich immer die Zeitung des Gegners lesen“. Wir wollen uns nicht jeden Morgen endlos aufregen, also lesen wir normalerweise die Zeitung, die unserer Auffassung entsprechen. Diese echo chambers werden auf die sozialen Medien angewandt. Aber der Unterschied ist: bei den Zeitungen gab es einen riesigen Filter. Filter gibt es heute nicht mehr und das führt dazu, dass Auffassungen vertreten werden können, die früher nicht Teil des öffentlichen Diskurses geworden wären, und das manchmal aus guten Gründen. Aber wie die Prozesse dann ablaufen, dass es nicht zur Pluralisierung kommt, sondern eher zu Polarisierungstendenzen, das wissen Medienwissenschaftler:innen wahrscheinlich besser als ich. Was ich mit diesen Beispielen zeigen möchte, ist: die sozialen Medien sind oft problematisch, aber nicht nur problematisch. Es kommt immer darauf an, wie sie genutzt werden. Die sozialen Medien sind außerdem auch nicht alleine für alles Schlechte in unseren Gesellschaften verantwortlich. Es gibt bestimmte Tendenzen, die schon vorher da waren, wie das Beispiel mit den echo chambers, die genau genommen schon früher existierten.

 

Tübinale: Der Philosoph und Professor Philipp Hübl hat im Interview mit Juliane die Vermutung geäußert, dass die Polarisierung der Öffentlichkeit eher noch zunehmen wird. Wie sehen Sie das? Mit welchen Entwicklungen können wir rechnen?

 

Prof. Dr. Diez: Ich finde das ganz schwierig. Ich habe schon angedeutet, dass wir die Tendenz haben, das, was gerade passiert, überzubewerten und für das allein Gültige zu halten. Ich denke, es kommt sehr stark darauf an, was die Gesellschaften draus machen. Ich kann hier keinen Automatismus erkennen. Ich hatte schon darauf hingedeutet, dass das in den einzelnen Gesellschaften unterschiedlich angelegt ist, aufgrund unterschiedlicher historischer Pfade, dass die sozialen Medien auf unterschiedliche Weise genutzt werden können. Deswegen ist es von uns heute nicht einzuschätzen, wie das in der Zukunft verläuft. Ich würde deswegen dem Kollegen da etwas widersprechen wollen. Es kommt auf die Gesellschaft und uns alle an, wie wir diese Gesellschaften in den jeweiligen Kontexten bauen, in denen wir uns befinden. Wir sollten das Szenario der Polarisierung nicht herbeireden. Deswegen bin ich ja so skeptisch und versuche die ganze Zeit, die Frage zu umgehen. Ich finde nicht, dass wir in einer polarisierten Gesellschaft leben. Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als es nur drei Fernsehprogramme gab, und als man morgens in die Schule kam, hatten alle dasselbe geschaut. Das ist ein anderer gesellschaftlicher Zusammenhalt, als in einer Gesellschaft, in der es viele verschiedene Lebenswelten gibt. Sie erinnern sich an die Diskussion über die Parallelgesellschaften, die auf Migrant:innen gemünzt war. Ich habe immer gesagt, diese Parallelgesellschaften haben wir schon seit langem. Wenn Sie sich in bestimmten östlich von uns gelegenen Bundesländern in bestimmten ländlichen Regionen aufhalten, dann hat das mit der Lebenswelt in Tübingen wenig zu tun. Und die Lebenswelt in Tübingen hat wenig mit der Lebenswelt in verschiedenen Kiezen von Berlin zu tun. Das ist keine Polarisierung. Das ist ein anderes Problem. Ja, das ist ein Problem des Auseinanderdriftens und da würde ich schon sagen, dass wir das nicht mehr einfangen können. Aber ich weigere mich, das prinzipiell als schlecht anzusehen. Das Gesellschaftsmodell, das da als Vergleichspunkt herangezogen wird, hat so in der Form nie existiert und ist ein Modell, zu dem ich nicht unbedingt zurück gehen möchte. Oder wollen Sie zurück in eine Gesellschaft, in der irgendwelche Männer in verrauchten Hinterzimmern die Entscheidungen treffen? Hinzu kommt, dass all die Kriterien, die wir heute an Demokratie anlegen, in der Form damals auch nicht gegeben waren. Manchmal sollten wir ein bisschen mehr bedenken, was wir da eigentlich beklagen und ob wirklich alle diese Entwicklungen so schlecht sind. Ob wir nicht vielleicht bestimmte negative Seiten, die wir vielleicht in den Entwicklungen sehen, aushalten müssen, um die positiven Seiten nutzen zu können. 


Lesetipp Buch von Prof. Dr. Diez. Universität Tübingen

 

 

 

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„The Routledge Handbook of Critical European Studies“ von Thomas Diez, Didier Bigo, Evangelos Fanoulis, Ben Rosamond und Yannis A. Stivachtis. 

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