Interview: Webcomics als Polarisierungslabor?

Dr. Wilde über den Webcomic Erzählmirnix und Polarisierung

Comicforscher und Medienwissenschaftler Dr. Lukas Wilde im Interview mit der Tübinale über Webcomics als Polarisierungslabor. Fragen und Antworten zum Thema Polarisierung und polarisierter online Kommunikaiton am Beispiel von Erzählmirnix (Nadja Hermann).
© Lukas R. A. Wilde

Wer ist Lukas R. A. Wilde? 

Dr. Lukas R. A. Wilde ist ein deutscher Medienwissenschaftler und Comicforscher. Seit Juli 2019 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Klaus Sachs-Hombach am Institut für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind u. a. Comic-Theorie und -Narratologie, japanische Populärkultur, Webcomics und Digitalisierung, sowie Bildsemiotik und Emoji-Forschung. 2018 veröffentlichte Dr. Wilde seine Dissertation mit dem Titel „Im Reich der Figuren“.  Darin untersuchte er die japanische „Mangaisierung” öffentlicher Räume. Für die Arbeit erhielt Dr. Wilde zwei Wissenschaftspreise. Sein Aufsatz „Natsume Fusanosuke’s Many Fascinations with the Lines of Manga“ wurde zudem 2021 mit einer lobenden Erwähnung für den Martin Schüwer-Puplikationspreis für herausragende Comicforschung prämiert. 


Was Webcomics mit Polarisierung zu tun haben

Im Rahmen der Rhetorik- und Medienwissenschaftsvorlesung zum Thema „Medienkonvergenz und Polarisierung“ hat Dr. Wilde einen Gastvortrag über „Erzählmirnix – Webcomics in Netzwerken“ gehalten und aufgezeigt, wie die Autorin Nadja Hermann mit ihrem Webcomic Erzählmirnix  eine Art „Polarisierungslabor“ herausarbeitet und wie dieser Webcomic mit Polarisierung und sozialen Medien zusammenhängt. Im Anschluss daran hatten wir die Gelegenheit mit Dr. Wilde ein Interview zum Thema führen zu können:  


Tübinale: Sind Comics ein Medium, an dem man Polariserung(sprozesse) aufzeigen und untersuchen kann? 

 

Dr. Wilde: Das scheint zunächst einmal sicher nicht unmittelbar evident. Comics, Mangas, Cartoons, generell graphische Erzählungen, wurden lange als trivial und eskapistisch gesehen, geradezu Vorzeigemedien für seichte Weltflucht. In den letzten eineinhalb Jahrzehnten hat sich das natürlich geändert, die sogenannte „Graphic Novel“ ist deutlich bemerkbar im Feuilleton angekommen, bevorzugterweise geht es dabei dann etwa um die Aufarbeitung des Nationalsozialismus oder die deutsch-deutsche Geschichte, also durchaus politische Themen. Was mich aber mehr interessiert, ist das Format Webcomic, gerade in social media, wo es zahllose Serien gibt, die gewissermaßen an neuralgischen Punkten polarisierter Online-Kommunikation einsetzen und diese auch sehr innovativ reflektieren. Nadja Hermanns Erzählmirnix (https://twitter.com/erzaehlmirnix oder https://www.facebook.com/erzaehlmirnix) spielt da zweifellos in der Königsliga.   

 

Tübinale: Mit Comics bzw. Comic Strips geht eine gewisse Erwartungshaltung einher (beispielsweise die Pointe im letzten Panel). Gibt es diese Erwartungshaltung auch bei Webcomics in sozialen Medien und wird diese erfüllt oder gibt es hier Unterschiede? 

 

Dr. Wilde: Die Bandbreite der gezeichneten Bildergeschichten, die wir „Comics“ nennen, ist ungeheuer groß. Das Spektrum reicht von dokumentarischen und journalistischen Werken über telefonbuchdicke Phantasy-Literatur bis hin zu seriellen Einbild-Cartoons. All diese medialen Formate haben ihre je eigenen Operationslogiken, Genre-Traditionen, narrativen Konventionen und sozial angeknüpfte Erwartungsstrukturen. Wie damit im Einzelfall umgegangen wird, das ist das Spannende. Stripserien in social media, deren mediale Dynamik ganz wesentlich darauf basiert, geshared und geretweeted zu werden, tragen natürlich die Leseerwartung vor sich her, irgendeine Art von Pointe, vielleicht auch nur einen bissigen, aber geistreichen Kommentar zu versprechen. Damit kann natürlich gespielt werden, etwa in der Antiklimax eines abschließenden „stummen Panels“, das das vorige Statement einfach beklemmend in der Luft hängen lässt. Viele „Comics“ sind also ganz und gar nicht komisch, arbeiten aber häufig mit dieser Erwartung.  

 

Tübinale: Wieso haben Sie sich in Ihrem Vortrag für die Erzählmirnix-Webcomics von Nadja Hermann entschieden? Was macht diese Webcomics für Sie aus? 

 

Dr. Wilde: Zunächst einmal publiziert Hermann ihre Strips nur noch auf Facebook, Twitter und Instagram (obwohl auch ein schönes neues gedrucktes Buch letzten Sommer herauskam). Dort kommentiert sie beinahe in Echtzeit tagesaktuelle politische Diskurse, im letzten Jahr etwa viel zu Wissenschaftsleugnung, Corona-Politik und „Schwurblern“, aber auch dem Umgang mit immer noch tabuisierten Themen wie Depression etc. Interessanterweise gibt es weder wiederkehrende Charaktere noch gezeichnete Hintergründe, keinerlei Figurenidentität, es handelt sich eigentlich nur um durchgespielte Dialogmuster zwischen A und B, das hat geradezu etwas von platonischen Dialogen. Die Selbstbeschreibung von Erzählmirnix lautete lange „hässliche, linksgrünversiffte Paint-Comics“ (mittlerweile „Linksgrüne Paint-Comics & Flucherei“). Und tatsächlich sind die reduzierten MS Paint-Smileys absolut stilbildend geworden, Hermanns Accounts sind unheimlich reichweitenstark, werden auf Fridays For Future-Demoplakaten aufgegriffen, vor zwei Jahren erhielt sie den renommierten „Goldenen Blogger“-Award… Ich würde Erzählmirnix gerade zu den wichtigsten Stimmen des populären Online-Diskurses in Deutschland zählen, auf jeden Fall vergleichbar mit Rezo oder maiLab. Wenn man Twitter oder Facebook nutzt, kommt man an ihren Arbeiten eigentlich kaum mehr vorbei. Und gerade auf Facebook hat man dann natürlich auch unzählige Hasskommentare unter jedem engagierteren Strip, da kann man der Lagerbildung in den Kommentaren fast schon programmatisch zusehen. Daher würde mir – als Comicforscher – keine spannendere Fallstudie zum Thema „Polarisierung“ einfallen, Erzählmirnix bildet da fast schon eine Experimentalanordnung.  

 

Tübinale: …und daran anschließend die Frage, ob es auch internationale Beispiele für solche Webcomics gibt? Wenn ja, wie werden diese wahrgenommen

 

Dr. Wilde: Es gibt tatsächlich sogar eine englisch übersetzte Version von Erzählmirnix, sie lautet emoticomix, aber die hat längst nicht dieselbe Reichweite. Es existieren natürlich zahlreiche berühmte Vorbilder für englische bzw. amerikanische Webcomic-Strips, die mit „gecopypasteten“ Clipart-Grafiken lakonisch den Alltag kommentieren, „Get Your War On“ (2001–2009) von David Reed war da etwa sehr stilbildend, oder Ryan Norths „Dinosaur Comics“ (seit 2003), die in jeder Folge die exakt gleichen Pixelgrafiken recyceln. Man spricht da auch von „constrained comics“, das hat fast schon etwas von Oulipo, experimenteller Literatur entlang streng formaler Regeln. Im französischen Raum existiert tatsächlich auch die Oubapo-Bewegung (Ouvroir de bande dessinée potentielle), aber die ist viel mehr im Kunstbereich angesiedelt, ganz anders als die Meme-Kommunikation. Ich glaube, obwohl die Bandbreite an Webcomic-Gattungen in social media und ihre schiere Zahl dieses Feld fast unüberschaubar macht, bleibt Nadja Hermann derzeit auch international recht einzigartig. Der naheliegendere Vergleich wären hier eher politische Cartoons und Karikaturen, die heute ja zumeist auch online publiziert werden. Das sind dann Künstler:innen wie Tom Gauld oder Ann Telneas, deren Bilder ja ebenso über alle timelines wandern. Aber Erzählmirnix ist einerseits wesentlich simpler, fast schon brachial, mit der Verweigerung aller stilistischen Bildkonventionen (MS Paint!), andererseits viel komplexer darin, Kommunikationsmuster zu de- und rekonstruieren. Wenn ich mich korrigieren darf, denke ich, dass die nähere mediale „Wahlverwandtschaft“ tatsächlich eher in der Meme-Kultur liegen dürfte, Rage Faces, solche Dinge… es geht um das „virale“ Eigenleben der Strips durch Verbreitung innerhalb von (und quer durch unterschiedliche) Online-Communities, darin liegt ja gerade auch der „Clash“ zwischen den Filterblasen, um mit Bernhard Pörksen zu sprechen.  

 

Tübinale: Wie hängt die Botschaft der Erzählmirnix-Comics mit der Meinung der Autorin Nadja Hermann zusammen? Gibt es hier eine Trennlinie? 

 

Dr. Wilde: Das ist eine wahnsinnig spannende Frage. Ich denke, dass man diesen Unterschied bei Erzählmirnix viel weniger treffen kann, als bei den meisten anderen Comics, wo man – von der Literaturwissenschaft her gedacht – ja gerne noch zwischen „Text“ (den narrativen Inhalten) und „Paratext“ (den Autor:innen-Kommentaren) unterscheidet. Hermann ist als mediale Persona besonders auf Twitter sehr sichtbar und prominent, kommentiert häufig Posts von anderen bekannten Accounts; damit meine ich nicht nur weitere Webcomic-Künstler:innen wie Krieg und Freitag, sondern auch Rezo, Luisa Neubauer usw… und da fungieren die Erzählmirnix-Smileys häufig tatsächlich wie Avatare oder Erweiterungen ihrer Online-Persönlichkeit, etwa als sie einen Post der Frankfurter Buchmesse zum Skandal um die Selbstausladung von Jasmina Kuhnke wegen der Bedrohung durch neurechte Verlage letzten Oktober unmittelbar mit einem „OB DU MICH VERASCHEN WILLST, FRAGE ICH?????!!!!!!!“ kommentiert hatte. Dieser Ausruf war als Grafik einem bekannten, häufig verwendeten Erzählmirnix-Affektsmiley zugeordnet, der aber bloß die berechtigte Entrüstung der tatsächlichen Autorin – und ihrer Leser:innenschaft – ausdrücken sollte. Ein solch non-fiktionaler Einsatz von Comic-Grafiken geht unmittelbar in den Gebrauch von Emoticons oder Emoji über, wo man ja auch nicht von „fiktiven Geschichten“ sprechen würde. Die Smileys repräsentieren oder veranschaulichen die tatsächlichen Affekte der Verwenderin, spitzen sie originell zu – wie bei digitalen Stickern in Messenger-Apps.  

 

Tübinale: Wie können Comics (im Speziellen die Erzählmirnix Comics) Filterblasen im Internet aufbrechen und zu dem von Prof. Dr. Bernhard Pörksen eingeführten Begriff des Filterclashs führen und somit ggf. Polarisierung entgegenwirken? 

 

Dr. Wilde: Ich weiß nicht, ob ein Entgegenwirken der Polarisierung das Ziel sein kann, wenn wir es mit wissenschafts- und menschenfeindlichen Positionen zu tun haben. Das ist auch ein wiederkehrendes Thema in Erzählmirnix, ich verweise da gerne auf einen wunderbaren Strip, in dem Smiley A absurde Querdenker-Positionen herausposaunt, was Smiley B mit „Das ist gefährlicher Unsinn!“ kommentiert. Daraufhin ruft ein drittes Wesen zur exponiert absurden Versöhnung auf („Wow wow wow! Solche Polarisierungen spalten unsere Gesellschaft, da verhaltet ihr euch jetzt beide gefährlich!“). Das Stichwort hier wäre vielleicht auch „False Balancing“. Was Pörksen mit den „Filter Clashs“ ja meint, ist, dass wir uns längst nicht mehr in wohlfühlige „Selbstbestätigungsmilieus“ zurückziehen können, selbst wenn wir das wollten, da man eben doch viel häufiger mit den Blasen „der anderen“ konfrontiert wird, als man vielleicht möchte. Das ist natürlich vor allem in social media der Fall, sobald man von verlinkten Artikeln in die Kommentarspalten überwechselt. Erzählmirnix bietet nun aber keine Nachrichten, sondern eigene Kommentierungen, und die verlassen ihre Blasen, ihre Milieus, gewöhnlich viel seltener. Das sehe ich als großes Potenzial des Formats Webcomic-Strip, gerade in seiner memetischen Verbreitbarkeit, denn dadurch erreichen Hermanns geistreiche Dekonstruktionen und Überführungen falscher Argumente eine viel größere Öffentlichkeit als manch kluge Kolumne. Die Eskalationen in den Kommentaren zeigen also erstmal nur, dass hier tatsächlich Filterblasen verlassen werden, und nicht jede „stumme“ Mitleser:in ist radikalisiert, das ist eine nur eine laute Minderheit – das sollte man nicht vergessen! 

 

Tübinale: Welche Rolle spielt das jeweilige soziale Medium (z.B. Instagram, Twitter, Facebook) bei der Rezeption der Webcomics? 

 

Dr. Wilde: Wie groß die Unterschiede, wie divergent die etablierten kommunikativen Protokolle (die „Pfadabhängigkeiten“) auf diesen Plattformen jeweils sind, das kann jede:r leicht selbst vergleichen, wenn man die Reaktionen auf den gleichen Strip in Instagram, Twitter und Facebook anschaut. Hermann verwendet diese unterschiedlichen Kanäle prinzipiell nicht identisch, experimentiert viel damit herum, welcher Strip auf welcher Plattform am besten funktioniert. Generell ist das Eskalationspotenzial auf Facebook natürlich am höchsten, auf Insta bleibt es viel gemütlicher. Die Reichweiten sind auch unterschiedlich hoch, gegenüber den 167.000/190.000 Abonnent:innen auf Facebook/Twitter sind es bei Insta erst 30.000 (Stand: Januar 2022) – dieser Account ist aber auch erst vor ca. einem Jahr gestartet. Was all diese Kanäle gemeinsam haben, ist aber, dass die tatsächliche Leser:innenschaft weit über diese Zahlen hinausgeht, eben durch das Weiterverbreiten und „Sharen“, so etwas ist bei dem gedruckten Buch natürlich unmöglich. Und darauf sind die Strips auch zugeschnitten, das macht sie medienwissenschaftlich so spannend! 

 

Tübinale: Die Erzählmirnix Comics arbeiten häufig mit Implikatur, also mit einem Bedeutungsaspekt, der durch eine Äußerung zwar kommuniziert, aber von der Sprecher:in nur angedeutet wird, und mit Präsuppositionen, sprich eine einer Aussage zugrundeliegende, als gegeben angenommene Voraussetzung. Wie hängen Implikatur und Präsupposition mit der Botschaft des Comics zusammen? 

 

Dr. Wilde: Meine These in dem Vortrag war zugespitzt, dass Erzählmirnix in einer Art „Polarisierungslabor“ sehr präzise herausarbeitet, wo die wohlwollende Verständigung heutzutage auseinanderbricht, vor allem online. Das betrifft in der Tat das, was die Linguist:innen Dan Sperber und Deirdre Wilson als „geteilte kognitive Umgebung“ bezeichnet haben, also die Summe der Annahmen über die Welt, die wir als wahr akzeptieren können und gegenseitig kommunikativ voraussetzen. Wenn ich die wissenschaftlich zweifelsfrei belegte Realität des Klimawandels – oder, dass Corona existiert und eine gefährliche bis tödliche Krankheit ist – nicht mehr akzeptiere und da irgendwann in ein Paralleluniversum abgebogen bin, dann hat das natürlich unschöne soziologische und politische Folgen ab einer gewissen Personenzahl. Es sorgt aber auch dafür, ganz banal, dass die Verständigung in Kommentarspalten fundamental unmöglich wird, weil Personen von anderen Voraussetzungen ausgehen und sich bewusst oder unbewusst grundlegend missverstehen (wollen). Und zugleich kann diese kommunikative Erfahrung auch Grundlage oder zumindest Verstärkung dieser Lagerbildung, des Verschließens hermetischer „Meinungstresore“ (Pörksen), sein. Das klingt erstmal sehr trocken und technisch. In Erzählmirnix wird genau dieses Missverstehen aber sehr geistreich „durchgespielt“, in Analogien, die auch mit größerem Misstrauen gegenüber universitärer Bildung sofort eine kleine Glühbirne über dem Kopf anspringen lassen können – da spreche ich aus eigener Erfahrung im erweiterten Familien- und Bekanntenkreis! Wenn beispielsweise ein tränenreicher Smiley darüber klagt, es „zerreiße ihm das Herz“, dass die „armen Kinder“ Masken tragen müssten, zwei Panel weiter aber über die „manipulativen Mitleidsstories“ über geflüchtete Kinder in den Elendslagern von Moria lästert, dann wird klar, dass die Kategorie „Kinder“ hier qua Präsupposition nur auf „deutsche“ angewandt wird – es wird also deutlich, aus welcher politischen Ecke der Wind der „Corona-Maßnahmenkritik“ häufig weht. Wer „Wir haben Meinungsfreiheit!“ postet, meint eigentlich „Ich will meine Meinung sagen, ohne dass irgendwer eine andere Meinung hat!“ – und hinter „Das wird man jawohl noch sagen dürfen!“ steht häufig die unausgesprochene Forderung „Dafür wird man ja wohl noch bedingungslose Zustimmung erwarten dürfen!“ (alles Hermann-Zitate). Das ist zugespitzt, das ist vielleicht auch provokant, es dringt so aber auch durch einige kognitive Filter oder in „Meinungstresore“ hinein, die von Argumenten oder Quellennachweisen alleine nicht geknackt werden können.   

 

Tübinale: In Ihrem Vortrag gehen Sie auf das Kooperationsprinzip von Paul Grice ein. Dieses beschreibt vier Maxime, die zu einem gelungenen Dialog führen. Doch in sozialen Medien, die häufig als polarisiert gelten, scheint dieses Kooperationsprinzip nicht vorhanden zu sein. Welche Folgen entstehen daraus? 

 

Dr. Wilde: Grice hat mit seinen vier Kooperationsmaximen (vereinfacht: sage stets soviel wie nötig!; sage nichts, was Du für unwahr hältst!; sei relevant!; sage alles so klar wie möglich!), keine normativen Regeln formuliert – wie man miteinander sprechen sollte – sondern quasi die Bedingungen der Möglichkeit untersucht, was zum Glücken von Verständigung immer schon erfüllt sein muss. Wenn dieses kommunikative Wohlwollen – etwa anzunehmen, mein Gegenüber hat mir tatsächlich etwas Relevantes und Wahrhaftiges mitzuteilen – nun aber in den angesprochenen „Filter Clashs“ aufgekündigt wird, dann führt das zu einer Form des Austauschs, der nur noch oberflächlich an Kommunikation erinnert, tatsächlich aber zu einer Art „Selbstgespräch“ mit den eigenen, vielleicht nur imaginierten Communities verkommen ist. Man möchte eben „likes“ aus den eigenen Reihen kassieren, oder sich über die Auslach-Smileys (auf Facebook) der „Gegenseite“ erzürnen. Tatsächlich weiß man im Einzelfall ja nicht einmal mehr, ob es sich um echte Accounts oder Bots bzw. Fake-Profile handelt – das ist für diese ritualisierte Form des Missverstehens auch gar nicht wichtig. Mir scheint aber umgekehrt ein medienapokalyptischer Befund auch nicht ganz richtig, wonach dies etwas fundamental Neues wäre – Stammtischparolen, peinliche Onkels auf Familientreffen, unversöhnlich verhärtete Fronten gab es immer schon; was sich u. A. durch die Bedeutung von social media als privilegiertem Raum des semi-öffentlichen Sprechens verschoben hat, ist die Tatsache, dass die Idee eines „neutralen“ öffentlichen Forums brüchig geworden ist, in dem alle Gesprächsteilnehmer:innen zumindest ein Set „kleinster gemeinsamer Wirklichkeit“ (Mai Thi Nguyen-Kim) teilen, um sich hier überhaupt auszutauschen. Webcomics können dies ganz sicher nicht kitten – aber vielleicht die Sollbruchstellen ein wenig deutlicher herausarbeiten, gerade für die große Zahl an Mitleser:innen, die gemeinschaftliche Kooperationsmaximen keinesfalls aufgegeben haben. 


Lesetipp. Dr. Lukas R. A. Wilde, Comicforscher, Institut für Medienwissenschaft. Universität Tübingen

 

 

 

 

Lesetipp:

Mehr zu Comics und deren Analysemethoden findet ihr in “Comicanalyse - Eine Einführung” von Stephan Packard, Andreas Rauscher, Véronique Sina, Jan-Noël Thon, Lukas R. A. Wilde und Janina Wildfeuer.

J. B. Metzler Verlag, 2019, 288 Seiten, ISBN: 978-3-476-04774-8, Softcover 19,99€